'Abdu'l-Bahá in Stuttgart

Vor einhundert Jahren, am 1. April 1913, traf 'Abdu'l-Bahá, der älteste Sohn Bahá'u'lláhs, des Stifters der Bahái-Religion, zu einem Besuch in Stuttgart ein. Dieser Besuch war ein historisches Ereignis für die deutsche Bahá'í-Gemeinde, die erst wenige Jahre zuvor in Stuttgart ihre ersten Wurzeln geschlagen hatte.

'Abdu'l-Bahá, 1844 in Teheran geboren, war noch ein Kind, als Bahá'u'lláh wegen Seiner Lehre von der Einheit der Menschheit und dem gemeinsamen Ursprung aller Religionen auf die erbitterte Feindschaft muslimischer Fanatiker stieß, die Ihn grausam verfolgten und aus Ihm einen lebenslang Verbannten und Gefangenen machten: aus Persien ausgewiesen war Er Gefangener in mehreren Städten des Osmanischen Reiches. Seine letzte Station war die Festungsstadt 'Akko im heutigen Israel.

Seit Seinem 9. Lebensjahr begleitete 'Abdu'l-Bahá Seinen Vater auf dessen gesamten Verbannungsweg und war Ihm schon in jungen Jahren eine wesentliche Stütze. Bahá'u'lláh vertraute Ihm in Seinem Testament die Führung der Gemeinde an und ernannte Ihn zum autorisierten Ausleger Seiner Offenbarungsschriften. Beinahe Sein gesamtes Leben verbrachte 'Abdu'l-Bahá in Gefangenschaft. Erst 1908, im Alter von 64 Jahren, erlangte Er durch eine Amnestie im Zuge der jungtürkischen Revolution Seine Freiheit.

Trotz Seines fortgeschrittenen Alters und Seiner durch die Haft geschwächten Gesundheit unternahm 'Abdu'l-Bahá von 1911 bis 1913 eine Reise durch Europa und Amerika, um die Lehren Bahá'u'lláhs im Westen vorzustellen und den noch jungen Bahá'í-Gemeinden Führung zu geben. In zahllosen Treffen und Vorträgen erläuterte Er Seinen Zuhörern die wesentlichen Prinzipien des Glaubens und die Früchte der Offenbarung Bahá'u'lláhs, die den geistigen Horizont des Ostens erleuchtete und die Bahá’í beseelte, Jahrhunderte alte Vorurteile zu überwinden, trennende Dogmen und die künstlichen Gräben zwischen den Menschen zu beseitigen.

Er betonte die Einzigkeit Gottes und die Einheit aller Religionen, sprach von der Einheit der Menschheit in der Vielfalt und betonte die gelebte Gleichberechtigung der Geschlechter als Voraussetzung für Frieden und Fortschritt der Menschheit.

'Abdu'l-Bahá war eine außerordentlich charismatische Persönlichkeit - davon zeugen zahlreiche zeitgenössische Dokumente. In Wort und Tat führte 'Abdu'l-Bahá den Menschen, denen Er begegnete, vor Augen, dass Liebe die mächtigste aufbauende Kraft ist. Er sprach von der Liebe als dem „Schein göttlichen Glanzes“ in der Menschenwelt. Menschen, die das Vorrecht hatten, in Seine Gegenwart zu gelangen, waren von der bedingungslosen Liebe, die Er ausstrahlte, zutiefst eingenommen. Viele wurden dadurch verwandelt – sogenannte einfache Menschen ebenso wie gesellschaftlich hoch angesehene.

Dies war auch in Stuttgart zu erleben, wo Er vom 1. bis 8. April und - nach einem Besuch in Budapest und Wien - noch einmal vom 24. April bis zum 1. Mai 1913 weilte. Zahlreiche Menschen durften in diesen Tagen Seine unendliche Liebe spüren und Seinen ihre Seelen verwandelnden Worten lauschen.

"Begnügt euch nicht damit, durch Worte Freundschaft zu erzeigen. Lasst eure Herzen in liebevoller Freundlichkeit für alle erglühen, die eure Wege kreuzen." rief Er Seinen Zuhörern inständig zu.

Die Liebe als ‚der Widerschein göttlichen Glanzes in der Menschenwelt‘ beschränkt sich nicht auf die gegenseitige Beziehung Einzelner. Ihr Widerschein fördert und fordert, wie 'Abdu'l-Bahá auf Seiner Reise immer wieder betonte, soziale und zwischenstaatliche Einrichtungen für die Sache des Weltfriedens, für den Ausgleich zwischen Reichtum und Armut, die Integration von Minderheiten und Überwindung von Vorurteilen, die universelle Erziehung und Bildung für Jungen und Mädchen, damit sie zur selbständigen Erforschung der Wirklichkeit befähigt werden – unbehindert von Fesseln alter Dogmen.

1921 verschied 'Abdu'l-Bahá im Alter von 77 Jahren in Haifa.

Seine Worte und Sein Handeln bieten - nicht nur den Anhängern des Bahá’í-Glaubens - einen Reichtum an Inspiration und mannigfaltigen Einsichten, den Herausforderungen heutiger Tage zu begegnen.